Paläo‐ethnobotanische Befunde an mittelalterlichen Pflanzenresten aus Süd‐Niedersachsen, Nord‐Hessen und dem östlichen Westfalen

Zusammenfassung In den letzten Jahren wurden aus dem Mittelalter stammende Pflanzenreste an 20 Fundorten Sud-Niedersachsens sowie an sechs benachbarten Fundplatzen der angrenzenden Bundeslander geborgen und der palao-ethnobota-nischen Bearbeitung zugefuhrt (Abb. 1). Die Fundplatze befinden sich ausnahmslos im Bereich trockener Mineralboden; allerdings konnten an einigen Fundorten auch Feuchtbodenablagerungen in Brunnen, Graben, Gruben und Kloaken angeschnitten werden. Daher liegen auser den aus durchlufteten Trokkenboden stammenden verkohlten Pflanzenresten auch zahlreiche unverkohlte Pflanzenteile vor. Es handelt sich jedoch in jedem Fall um Streufunde und Abfalle; mit ihrer Hilfe last sich ein relativ reprasentatives Bild von der Mittelaltersituation gewinnen. Der Aussagewert der einzelnen Fundkomplexe ist jedoch unterschiedlich; er hangt von Entstehungsweise und Beschaffenheit der die Funde fuhrenden Sedimente ab. Bei der Auswertung derartiger Pflanzenreste sind daher zahlreiche, fundplatzspezifische methodische Probleme zu berucksichtigen, die in der vorliegenden Arbeit diskutiert werden (Kap. 3). Entsprechend sind die Erwartungshorizonte, die an die einzelnen Fundkomplexe geknupft werden konnen, unterschiedlich. Zu ihrer Kennzeichnung wurde eine Reihe von Signaturen entwickelt, die den Fundstellencharakter anzeigen. Diese Signaturen sind in der Fundplatzkarte (Abb. 1) eingetragen und erlautert. Bei den bisher durchgefuhrten Analysen konnten etwa 100 Arten mit Hilfe ihrer Fruchte und Samen bestimmt werden (Tab. 1). Getreidekorner und Leguminosen-Samen sind ausschlieslich verkohlt, die Lein-Nachweise sind es zum Teil. Die Belege von Kultur- und Wildobst sowie die von Unkrautern und Wildpflanzen sind mit wenigen Ausnahmen unverkohlt. Daher kommen Nachweise dieser Artengruppen nur in Feuchtboden-Ablagerungen vor, die daher besonders wertvoll sind (Kap. 4). Pflanzenfunde aus Grabern zeigen, das Hopfen und Artemisia im Zusammenhang mit der Bestattung von Bedeutung gewesen sind (Kap. 5.1). Unter den Kulturpflanzen hatten Roggen und Weizen wahrend des Mittelalters die groste Bedeutung im Untersuchungsgebiet erlangt. Der Anteil von Gerste und Hafer war wesentlich geringer. Wildobst wurde im ganzen Zeitraum intensiv gesammelt und genutzt. Die Kulturobstarten haben erst im Hoch- und Spatmittelalter an Bedeutung gewonnen. Wein und Walnus sind aller Wahrscheinlichkeit nach im Gebiet kultiviert worden. Eskastanienfunde gehen auf Importhandel zuruck (Kap. 5.2 und 5.3). Der groste Teil der nachgewiesenen Mittelalter-Flora ist auch heute noch im Gebiet Sud-Niedersachsens vorhanden. Agrimonia procera, Neslia paniculata und Xanthium strumarium fehlen heute allerdings im Bereich ihrer Mittelalter-Fundorte und sind auch sonst selten geworden. Unter den Lebensformen der nachgewiesenen Arten herrschen Therophyten und Hemikryptophyten vor (Tab. 2; Kap. 5.4.1). Aussagen uber die damals vorhandenen Standortsverhaltnisse werden mit Hilfe der okologischen Zeigerwerte Ellenbergs abgeleitet und in einer Tabelle (Tab. 3) sowie in Oko-Diagrammen und vergleichenden Standortsfaktoren-Diagrammen zur Darstellung gebracht (Abb. 2–6). Danach waren die Standorte hinsichtlich des Licht-, Temperatur-, Kontinentalitats- und Bodenfeuchte-Faktors im Umkreis der vier, in dieser Hinsicht untersuchten Siedlungen weitgehend gleichartig. Deutliche Unterschiede zeigen sich jedoch hinsichtlich der Bodenaziditat und des Stickstoff-Faktors (Kap. 5.4.2). Die mittelalterlichen Vegetationsverhaltnisse im Umland der Siedlungen konnten unter Berucksichtigung methodischer Probleme auf der Grundlage von Ellenbergs Angaben uber das soziologische Verhalten der nachgewiesenen Arten rekonstruiert werden. Ein vergleichendes Sozio-Diagramm (Abb. 7) zeigt, das es auch in dieser Hinsicht viele Gemeinsamkeiten gegeben hat. Bemerkenswert ist die allgemeine Verbreitung von Zweizahn-Schlammfiuren. Die heutigen Hackunkrauter wuchsen damals offensichtlich in ± luckigen Sommergetreidefeldern. Auf den Wintergetreideackern gab es bereits Secalinetea-Gesellschaften. Die Ruderalgesellschaften zeigten unterschiedliche Ausbildungen. Hervorzuheben ist die geringe Bedeutung und Ausdehnung von Grunlandgesellschaften. Gebusche und Hecken im Nahbereich der Siedlungen hatten als Wuchsorte der regelmasig genutzten Wildobstarten eine erhebliche okonomische Bedeutung.