Über Kultur im Zeitalter der Sozialwissenschaften

Die Soziologie hat sich im vergangenen Jahrzehnt in Deutschland etabliert — oder auch reetabliert, und dieser Vorgang hat, zumindest fur die Offentlichkeit, im Zeichen der sogenannten empirischen Untersuchungen gestanden. Nun ist es keine Frage, das unsere Gegenwart solcher konkreter Studien an allen Ecken und Enden bedarf, und es ist auch keine Frage, das die saubere Beherrschung nicht etwa nur der Techniken und Methoden, sondern gerade auch der erforderlichen theoretischen Kenntnisse, ohne welche solche Studien ein Trummerhaufen von Daten und ein Monument der Neugier bleiben mussen, heute zur Ausrustung des Soziologen vom Fach gehort. Aber es ist auch wahr, das mit solchen Arbeiten das Feld soziologischer Aufgaben noch nicht abgeschritten, geschweige denn gepflugt und gesat ist. Wie zahlreich und wie gut diese Praparierungen am lebenden Korper unserer Gesellschaft auch sein mogen, so antworten sie uns am Ende noch nicht auf die Frage, was nicht dieser oder jener Teil unserer Gesellschaft, sondern was unsere Gesellschaft sei. Und dieses Anliegen ist nicht Ausflus einer musigen Spekulation, dem keine Realitat entspricht, wie das die Soziologie selbst wohl eine Weile geglaubt hat. Immer starker hat sich in der Forschungslogik wie in der Praxis die Einsicht verbreitet, das selbst das Einzelne und Konkrete nur in dem Mase erkennbar wird, wie die allgemeinen, aber nicht weniger wirklichen und wirksamen Grundzuge der Gesellschaft erkannt sind. Grundzuge sind nicht identisch mit den verbreiteten Phanomenen, die sich der Intuition unmittelbar und der Sozialforschung mittelbar darbieten. Grundzuge sind diejenigen, mit dem Instrument der soziologischen Analyse freizulegenden Grundstrukturen, aus denen die beobachtbaren Phanomene allererst abzuleiten und zu verstehen, ja uberhaupt nach ihrer Bedeutung und Realitat erst abzuschatzen sind. Bei allem Sinn und Hang also fur die Beschreibung gesellschaftlicher Phanomene und die Entratselung konkreter Details — sowie (und das ist etwas anderes) bei allem Verstandnis dafur, das unsere Gesellschaft praktisch auf empirische Untersuchungen angewiesen ist, bleibt der Soziologe auch, ja vordringlich, der Frage nach den Grundzugen verpflichtet.