Der Gender-Check im menschzentrierten Gestaltungsprozess

Gender zu berücksichtigen heißt meist gerade nicht, "für Männer" und "für Frauen" zu gestalten. Aber was heißt es dann? Der Gender-Check bietet eine Hilfestellung, um die eigene Herangehensweise aus Genderperspektive zu hinterfragen. Die Basis sind Leitfragen, anhand derer das Entwicklungsteam die eigene Arbeit im nutzungszentrierten Designprozess nach ISO 9251-210 reflektieren kann. 1 Warum Gender im Gestaltungsprozess? Die Gestaltung von Mensch-Computer-Schnittstellen ist immer auch eine Entscheidung darüber, welche Möglichkeiten gegeben oder nicht gegeben werden, was richtig oder falsch, was angemessen oder unangemessen ist. Die Schnittstelle verkörpert also Werte und Normen einer Gesellschaft – und damit auch Vorstellungen über Männer und Frauen, darüber, wie sie sind und wie sie sein sollten (Breslin & Wadhwa, 2014). Diese Vorstellungen können explizit formuliert und gezielt eingesetzt werden. Sie können aber auch implizit sein und ohne bewusstes Zutun, vielleicht sogar wider besseren Wissens zum Tragen kommen (Greenwald et al., 2002): Kulturell geprägte Geschlechterstereotype sind auch dann handlungsleitend und wirksam, wenn eine Person diesem Stereotyp explizit formuliert nicht zustimmen würde. Implizites Wissen kann so dazu führen, dass Entwicklungsteams genau deshalb Geschlechterstereotype reproduzieren, weil sie das Thema Gender außen vorlassen. Um gegen diese Form von Gender-Blindheit vorzugehen, gibt es zahlreiche Ansätze in der HCI, die sich damit auseinandersetzen, wie Gender in HCI integriert werden kann (Breslin & Wadhwa, 2014). Eine der Grundlagen solcher Interventionen ist Forschung dazu, dass die Wirksamkeit von impliziten Assoziationen dadurch verringert werden kann, dass bewusst hinterfragt und gegengesteuert wird (Banaji & Greenwald, 2013). Eine HCI, die tatsächlich allen Nutzenden gerecht werden soll, kann somit das Thema Gender nicht außen vorlassen, sondern muss es bewusst auf die Agenda bringen. Um dies operativ zu unterstützen, bietet es sich an, an vorhandene Arbeitsprozesse anzuknüpfen und diese zu S. Diefenbach, N. Henze & M. Pielot (Hrsg.): Mensch und Computer 2015 Tagungsband, Stuttgart: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2015, S. 279-282. “proceedings” — 2015/7/25 — 19:29 — page 280 — #292 Der Gender-Check im menschzentrierten Gestaltungsprozess 2 erweitern, wie es das „Gender Extended Research and Development“ (GERD)-Modell für die Informatikforschung macht (Draude, Maaß, & Wajda, 2014). 2 Fragen zur Reflexion Der hier vorgestellte Gender-Check zeigt Reflexionsfelder für den menschzentrierten Gestaltungsprozess auf. Im folgenden werden für die verschiedenen Phasen des nutzungszentrierten Designs nach ISO 9241-210 Fragen vorgestellt, die helfen, Gender-Blindheit zu vermeiden, also Gender in der Gestaltung von interaktiven Bedienoberflächen angemessen zu berücksichtigen (Marsden, 2014). Die Leitfragen wurden im Rahmen des Forschungsprojekts Gender-UseIT entwickelt, in dem es darum geht, das Wissen im Bereich Gender, Usability und UX zu vernetzen und nutzbar zu machen (Marsden & Kempf, 2014). 2.1 Verstehen und Festlegen des Nutzungskontexts In dieser Phase geht es darum, bestehende gesellschaftliche Verhältnisse in die Charakterisierung von Nutzungskontexten mit einzubeziehen. Es gilt, offene und partizipative Methoden einzusetzen, um die tatsächlichen Nutzungsmöglichkeiten zu verstehen. Idealerweise findet ein Figur-Grund-Wechsel in der Form statt, dass die Lebensrealitäten und Praktiken in den Vordergrund und die Interaktion mit einem System in den Hintergrund gestellt werden. Folgende Reflexionsfragen können hier z.B. hilfreich sein: Wie werden Informationen für die Analyse des Nutzungskontexts herangezogen? Wie wird berücksichtigt, dass sich der Nutzungskontext verändern kann, je nachdem, welche Merkmale die beteiligte Person mitbringt, z. B. Geschlecht, Alter, Beruf, außerberufliche Aufgaben, Bildung, Einkommen, Lebensform, Technikbezug, Ethnie? Wie kann sichergestellt werden, dass diese Daten ökologisch valide sind? Wie können Nutzerinnen und Nutzer schon in dieser Phase beteiligt werden? Das Produkt könnte in unterschiedlichen Nutzungszusammenhängen eingesetzt werden – wie wurden Praktiken und Gewohnheiten berücksichtigt? Durch unterschiedliches Erwerbsumstände, Mobilität, Freizeit, aber auch durch körperliche Unterschiede wie Größe der Hände, Stimmlage oder Gehörsinn entstehen unterschiedliche Nutzungszusammenhänge – wie werden diese berücksichtigt? Wie kann verhindert werden, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung durch eine bestimmte Gestaltung der Technik zusätzlich festgeschrieben wird? 2.2 Festlegen der Nutzungsanforderungen Bei der Festlegung der Nutzungsanforderungen geht es darum, die zuvor erarbeiteten Nutzungszusammenhänge bei der Entwicklung der Nutzungsanforderungen mitzudenken und unterschiedliche Lebenswelten und unterschiedliche Menschen mit einzubeziehen. Es gilt, den Einsatz der I-Methodology zu vermeiden (Rommes, 2014), also nicht von sich selbst 280 Nicola Marsden, Maren Haag “proceedings” — 2015/7/25 — 19:29 — page 281 — #293 Der Gender-Check im menschzentrierten Gestaltungsprozess 3 auszugehen und die eigenen Vorstellungen, Herangehensweisen, Ziele auf die Nutzenden zu übertragen. Folgende Reflexionsfragen können hier z.B. hilfreich sein: Wessen Welt wird hier repräsentiert? Wie wird berücksichtigt, dass der Zugang zu Endgeräten, Motivation, Können und verschiedene Formen der Unterstützung entsprechend der gesellschaftlichen Rollen unterschiedlich verteilt sind? Wie werden unterschiedliche Lebensumstände berücksichtigt? Wie wird eine Reflexion von Geschlechterrollen in der Anforderungsanalyse sichergestellt? Wie wird sichergestellt, dass auch die Anforderungen von Nutzerinnen und Nutzern, die nicht geschlechtsrollenkonform sind, berücksichtigt werden? Wie wird verhindert, dass schon in der ersten Iteration der Fokus darauf liegt, was von Systemseite aus umsetzbar ist? 2.3 Entwerfen der Gestaltungslösung Beim Entwurf geht es darum, mit einer guten User Experience die Effektivität und Effizienz für alle Nutzenden zu steigern. Es gilt, ein männliches oder weibliches Design zu vermeiden, mit dem gesellschaftliche Rollen reproduziert werden und darauf zu achten, dass Sprache, Bilder und Auswahlmöglichkeiten keine Stereotype verstärken. Folgende Reflexionsfragen können hier z.B. hilfreich sein: Wie kann die Kategorie Geschlecht bei der Erstellung des Prototyps mitgedacht werden? Wie wird soziale Vielfalt im Prototyp berücksichtigt? Welche körperlichen Merkmale könnten eine Rolle beim Bedienen und der Verwendung spielen? Wie wird anhand des Prototyps überprüft, ob das Design vergeschlechtlicht ist, also durch Sprache, Metaphern, Bilder, Farbe oder Form, gedachte Einsatzgebiete und Inhalte Geschlechterbilder und Vorstellungen über bestimmte Geschlechterrollen transportiert werden? Wie werden Designentscheidungen dokumentiert, die getroffen wurden, aber bestimmte Anforderungen und Zielgruppen nicht berücksichtigen? Wie wird sichergestellt, dass die geplante Art der Realisierung nicht die Gestaltung des Prototyps bestimmt? Wie wird dargestellt, wie sich die Elemente des Prototyps aus den Anforderungen ergeben? Wie werden auch bei der Gestaltung des Prototyps Ideen aus verschiedenen Perspektiven gezielt integriert? Wie wird der Prototyp dazu verwendet, auch anderen Gruppen Zugang zu bestimmten Arbeitsoder Freizeitaktivitäten zu geben, um gezielt neue Nutzungsgruppen für die bestimmte Technik zu gewinnen? 2.4 Evaluieren der Gestaltungslösung In dieser Phase ist es wichtig, dass die Evaluation auf realistischen und inklusive Testszenarien und Nutzungskontexten basiert. Es gilt, sowohl testpersonenals auch inspektionsbasierte Evaluationsmethoden zu nutzen, um problematische Vergeschlechtlichungen zu entdecken. Folgende Reflexionsfragen können hier z.B. hilfreich sein: Wie wird sichergestellt, dass bei Usabilityoder UX-Tests oder bei inspektionsbasierten Verfahren – bei der Auswahl von Testpersonen, Versuchsleitungen, Inspizierenden etc. – r ri tri rt t lt r s 281 “proceedings” — 2015/7/25 — 19:29 — page 282 — #294 Der Gender-Check im menschzentrierten Gestaltungsprozess 4 Vielfalt repräsentiert ist? Auf welche Art werden realistische und inklusive Testszenarien und Nutzungskontexte sichergestellt? Wie wird in dieser Phase der Evaluation versucht, die Perspektiven von Personengruppen, die im bisherigen Gestaltungsprozess außen vor waren, zu berücksichtigen? Einige Anforderungen zeigen sich erst dann, wenn ein Lösungsvorschlag vorliegt – wie wird sichergestellt, dass eine weitere Iteration folgt, in der wiederum gezielt Bereiche einbezogen werden, die bisher außen vor waren? Wie wird getestet, ob auch ungewöhnliche Lebensumstände, die z.B. eher im Kontext eines weiblichen Alltags auftauchen, berücksichtigt werden? Wie wird das Vorhandensein verschiedener mentaler, finanzieller und zeitlicher Ressourcen bei den Zielgruppen in die Evaluation berücksichtigt? Durch welche Methode wird überprüft, an welcher Stelle das System Gefühle bestimmter Gruppen verletzen könnte? 3 Implikationen für den Gestaltungsprozess Der menschzentrierte Gestaltungsprozess nach ISO 9241-210 ist ein etablierter Prozess für UX und Usability. Mit den hier dargestellten Reflexionsfragen ist bei der Durchführung des Prozesses sichergestellt, dass Genderaspekte berücksichtigt wurden und die vielfältigen Lebensrealitäten von Männern und Frauen berücksichtigt und gesellschaftliche Zuschreibungen hinterfragt wurden. Literaturverzeichnis Banaji, Mahzarin R, & Greenwald, Anthony G. (2013). Blindspot: Hidden biases of good people. New York: Random House LLC. Breslin, Samantha, & Wadhwa, Bimlesh. (2014). Exploring Nuanced Gender Perspectives within the HCI Community. Paper presented at the Proceedings of the IndiaCHI14: India HCI 2014 Conference on Human Computer Interaction, New Delhi, India. Draude, Claude, Maaß, Susanne, & Wajda, Kamila. (2014). GERD: ein Vorgehensmodell zur Integration von Gender/Diver