Seit einigen Jahren ist in der nordamerikanischen Information-SystemsDisziplin (IS) eine verstärkte Anwendung neurowissenschaftlicher Ansätze zu beobachten. Theorien und Methoden der Neurowissenschaften tragen zu einem besseren Verständnis menschlichen Verhaltens bei. Da die IS menschliches Verhalten bei der Nutzung von Informationssystemen zu erklären versucht, können neurowissenschaftliche Ansätze auch hier zum Erkenntnisfortschritt beitragen. Dimoka et al. (2007, S. 13) haben in diesem Zusammenhang in einer der ersten Publikationen hierzu formuliert: „It is just hard to believe that a better understanding of brain functioning will not lead to better IS theories.“ Vor dem Hintergrund der zunehmenden Internationalisierung der Wirtschaftsinformatik wird in der vorliegenden Diskussion das Thema „NeuroIS“ aufgegriffen. Verstärkt wird die Notwendigkeit der Diskussion von NeuroIS durch den Umstand, dass auch in anderen Wirtschaftsund Sozialwissenschaften neurowissenschaftliche Ansätze an Bedeutung gewinnen (z. B. Neuroökonomie, Camerer et al. 2005). In den Jahren 2009 und 2010 wurden in Österreich bereits zwei einschlägige wissenschaftliche Symposien durchgeführt, die explizit auf NeuroIS ausgerichtet waren. Auf der diesjährigen Tagung „Gmunden Retreat on Advances in NeuroIS“ (siehe http:// www.NeuroIS.org), auf der mehrere Fachvertreter der deutschsprachigen Wirtschaftsinformatikgemeinschaft vertreten waren, wurden Chancen und Herausforderungen von NeuroIS diskutiert. Dabei standen sowohl methodische als auch theoriebezogene Fragestellungen auf der Agenda. Ein zentrales Fazit der Tagung war, dass neurowissenschaftliche Ansätze nicht nur zur Erklärung menschlichen Verhaltens im Umgang mit Informationssystemen einen Beitrag leisten können, sondern auch für gestaltungsorientierte Wirtschaftsinformatiker von Relevanz sind. Dieser Umstand ist für die Akteure im deutschen Sprachraum von besonderem Interesse, liegt doch eine ihrer Stärken in der Gestaltung und dem Entwurf neuer innovativer Technologien. Um in der vorliegenden Diskussion eine breite Sichtweise auf die Thematik zu erhalten, wurden sowohl nordamerikanische Wissenschaftler als auch Vertreter der deutschsprachigen Wirtschaftsinformatik eingeladen, zum Thema Stellung zu nehmen. Folgende Personen sind der Einladung gefolgt (in alphabetischer Reihenfolge): Prof. Rajiv D. Banker, Merves Chair in Accounting and Information Technology, Fox School of Business and Management, Temple University, USA; Prof. Jan vom Brocke, Martin Hilti Chair in Business Process Management, University of Liechtenstein; Prof. Fred D. Davis, David D. Glass Chair in Information Systems, Sam M. Walton College of Business, University of Arkansas, USA; Prof. Pierre-Majorique Léger, Associate Professor am Department of Information Technologies, HEC Montréal, Kanada; Prof. Gernot R. Müller-Putz, Associate Professor am Institut für Semantische Datenanalyse/Knowledge Discovery, Laboratory of Brain-Computer Interfaces, Technische Universität Graz, Österreich; Prof. René Riedl, Associate Professor am Institut für Wirtschaftsinformatik – Information Engineering, Johannes Kepler Universität Linz, Österreich. Die sechs Autoren beleuchten in vier Beiträgen verschiedene Facetten der NeuroIS, die für die Wirtschaftsinformatik als relevant und bedeutsam erscheinen. René Riedl und Gernot R. MüllerPutz zeigen in ihrem Artikel anhand drei konkreter Beispiele, dass neurowissenschaftliche Ansätze zur Erklärung von Wirtschaftsinformatik-Phänomenen sowie zur Gestaltung von innovativen Informationssystemen verwendet werden können. Im Beitrag wird unter anderem über ein Laborexperiment auf Basis von eBay-Webseiten berichtet. Zudem wird auf Forschungsund Entwicklungsprojekte in der IT-Industrie Bezug genommen, die in den letzten Jahren als Prototypen der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Jan vom Brocke nimmt in seinem Beitrag Stellung zur Rolle der Neurowissenschaften in der gestaltungsorientierten Wirtschaftinformatik-Forschung. Es wird gezeigt, dass neurowissenschaftliche Ansätze nicht nur in behavioristischen Forschungsansätzen eingesetzt werden können. Hierzu systematisiert vom Brocke die Einsatzpotenziale in der gestaltungsorientierten Forschung und unterscheidet den Ansatz Research by Design sowie den Ansatz Research on Design.
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