Editorial: Medien und soziokulturelle Unterschiede

Kinder, Jugendliche und Erwachsene nutzen Medien in sehr unterschiedlicher Weise. Insbesondere handlungstheoretische Ansatze der Medienforschung konnten uberzeugend belegen, dass Menschen keine passive Zielscheibe von Medien sind, sondern diese aktiv nutzen. Medienrezeption und Medienaneignung wird als Teil sozialen Handelns verstanden, die Mediennutzung wird im Lebenskontext der Menschen verortet, es wird nach der Bedeutung der Medien im Alltag und fur die Lebensbewaltigung gefragt. Kulturtheoretisch motivierte Studien, die die Eigenleistungen der Individuen im Auswahlprozess und in der Konstruktion von Bedeutungen betonen, verdeutlichten eigensinnige Prozesse der Medienaneignung und eine Vielfalt medienkultureller Orientierungen. Im Bereich des Lernens mit Medien wurden die Chancen selbstgesteuerter Lernprozesse mit digitalen Medien in verschiedenen Forschungsprojekten herausgearbeitet. Ein kritischer Blick auf die Medienentwicklung und die Mediennutzung kann nicht verleugnen, dass es soziokulturelle Unterschiede und Formen sozialer Ungleichheit in der Mediennutzung gibt. In den letzten Jahren entstanden in diesem Zusammenhang vermehrt Studien zu Themenbereichen wie ‹Digital divide›, Zunahme medialer Wissens- und Bildungsklufte, Bildungsbenachteiligung und Medienaneignung. Verschiedene Fachtagungen griffen die Thematik auf, z.B. der vom JFF Institut fur Medienpadagogik in Forschung und Praxis und der Padagogischen Hochschule Ludwigsburg/Abteilung Medienpadagogik veranstaltete Fachkongress «Soziale Ungleichheit – Medienpadagogik – Partizipation» am 17./18.10.2008 in Bonn und das von der Gesellschaft fur Medienpadagogik und Kommunikationskultur e.V. (GMK) veranstaltete Forum «Geteilter Bildschirm – Getrennte Welten?» am 21.–23.11.2008 in Rostock. In diesen Studien und Fachtagungen ging es darum herauszuarbeiten, worin soziokulturelle Unterschiede in der Medienaneignung bestehen, was die Grunde hierfur sind, wie diese Unterschiede im Medienumgang im Hinblick auf gesellschaftliche Partizipationschancen zu bewerten sind und was daraus fur die medienpadagogische Praxis folgt. Dabei wurde deutlich, dass sich soziokulturelle Unterschiede neben alters- und geschlechtsspezifischen Faktoren vor allem am formalen Bildungshintergrund festmachen. Diese Unterschiede verweisen aber – so das Resumee in verschiedenen Analysen nicht automatisch auf Aspekte sozialer Benachteiligung und Ungleichheit, sondern zunachst einmal auf andere medienbezogene Aneignungsmuster und Praferenzen. Mediennutzung wird zum Bestandteil sozialer Distinktion. Aspekte sozialer Ungleichheit in der Mediennutzung werden vor allem dann sichtbar, wenn es um vorhandene Anregungsmilieus geht. Hier wird mit Blick auf gesellschaftliche Partizipationschancen der medienpadagogische Handlungsbedarf in bildungsbenachteiligten Sozialmilieus deutlich: sehr viele Kinder und Jugendliche erhalten weder im Rahmen der familiaren noch der schulischen Sozialisation hinreichend Anregung und Forderung fur einen reflektierten Medienumgang. Gleichwohl haben diese Kinder und Jugendliche in verschiedenen Bereichen Erfahrungen, Kompetenzen und Starken im Umgang mit Medien. Im Hinblick auf medienpadagogische Praxiskonzepte bedeutet dies, normative Orientierungen in bisherigen Medienkompetenzkonzepten kritisch zu hinterfragen und Forderkonzepte zu entwickeln, die besser auf die vorhandenen sozialen Kontexte, Bedurfnisse und Fahigkeiten der Kinder und Jugendlichen eingehen. Die vorliegende Ausgabe der Online-Zeitschrift Medienpadagogik bietet fur die weitere Diskussion dieser Fragen in sechs Beitragen Analysen und konzeptionelle Uberlegungen. Interessant ist, dass in mehreren Beitragen explizit auf die theoretischen Arbeiten von Pierre Bourdieu und seinen Arbeiten zum Habitus und den verschiedenen ‹Kapitalsorten› Bezug genommen wird. Im Spannungsfeld von lebenslagenbezogenen und mehr kulturtheoretisch orientierten Zugangen zeichnen sich hier Diskurslinien ab, die auf eine Scharfung und teilweise Neubestimmung des Verstandnisses von Medienkompetenz und Medienbildung abzielen. In ihrem Beitrag uber «Ungleiche Teilhabe – Uberlegungen zur Normativitat des Medienkompetenzbegriffs» bezieht sich Nadia Kutscher auf die Habitustheorie von Bourdieu und interpretiert auf diesem Hintergrund Befunde aus eigenen Studien und anderen empirischen Untersuchungen. Sie setzt sich kritisch mit dem Begriff der «Medienkompetenz» unter Aspekten milieuspezifischer Medienaneignung und damit verbundenen (medien-) padagogischen Denkmustern und Handlungsformen auseinander. Nadia Kutscher pladiert fur einen kritisch-reflexiven Medienkompetenzbegriff und eine darauf begrundete Medienbildung, die einerseits darauf abzielt, Teilhabe zu ermoglichen, die aber auch Machtverhaltnisse in Vorstellungen von kompetenter Mediennutzung angesichts lebensweltlicher Ungleichheiten aufdeckt und damit die Idee einer vielfach bildungsburgerlich konnotierten Idee von Medienkompetenz in Frage stellt. Ralf Biermann bezieht sich in seinem Beitrag uber «Die Bedeutung des Habitus-Konzepts fur die Erforschung soziokultureller Unterschiede im Bereich der Medienpadagogik» ebenfalls auf Bourdieu. Es geht ihm zunachst darum, grundlegende Schnittstellen zwischen medienpadagogischen Ansatzen und der Habitus-Theorie von Bourdieu herauszuarbeiten und kommt zu dem Ergebnis, dass das Habitus-Konzept als Bezugsrahmen fur medienpadagogische Arbeiten in Forschung und Praxis dienen kann, um die Genese und die Reproduktion soziokultureller Unterschiede in der Mediennutzung zu verstehen. Ralf Biermann konkretisiert diese Aussage, indem er die «Kapitalsorten»-Theorie Bourdieus auf den Begriff der Medienkompetenz bezieht und anschliessend danach fragt, wie distinktive Muster der Bewertung als Basis fur die differenten Dispositionen bezuglich der Mediennutzung fungieren und wie diese fur eine empirische Untersuchung miteinander verwoben werden sollten. Sebastian Hacke und Stefan Welling fragen in ihrem Beitrag uber «Die Wissensgesellschaft und die Bildung des Subjekts – ein Widerspruch?» nach medienpadagogisch relevanten Diskrepanzen zwischen dem Diskurs der Wissensgesellschaft und jugendlichem Medienhandeln. In einem ersten Teil bezeichnen sie das Konstrukt «Wissensgesellschaft» als eine Denkform, die gegenwartig sehr an volkswirtschaftlichen Verwertungskalkulen orientiert ist. Sie verdeutlichen dies an dem damit verknupften Verstandnis von «Kompetenz» und dem Menschenbild des «homo oeconomicus» und analysieren in vorhandenen Theorien zur Medienkompetenz zweckrationale und restringierende Tendenzen. In Abgrenzung hierzu argumentiert der Beitrag fur eine milieuspezifische Differenzierung in Medienkompetenzkonzepten und fur eine «praxeologische Perspektive» beim Verstandnis jugendlichen Medienhandelns. Horst Niesyto setzt sich in dem Beitrag «Digitale Medien, soziale Benachteiligung und soziale Distinktion» zunachst kritisch mit kulturtheoretischen Ansatzen zur Mediensozialisation auseinander, die die Relevanz unterschiedlicher sozialer Lebenslagen unterschatzen. Er geht davon aus, dass trotz einer zu konstatierenden Pluralisierung von Lebensstilen unterschiedliche soziale Lebenslagen und Milieus nach wie vor eine wichtige Bedeutung fur die Bildungs- und Entwicklungschancen von Menschen haben. Nach generellen Aussagen zu sozialer Ungleichheit, sozialer Benachteiligung, Habitus und (medialer) Distinktion werden am Beispiel des Themas «Digital Divide» Forschungsbefunde auf dem Hintergrund des Spannungsfelds von sozialer Benachteiligung und sozialer Distinktion referiert und eingeordnet. Der abschliessende Teil entwickelt ein Verstandnis von milieusensibler Medienkompetenzbildung, welches die Medienpraxis der Subjekte in Zusammenhang mit vorhandenen (inneren und ausseren) Ressourcen zur Lebensbewaltigung betrachtet. Auch Ingrid Paus-Hasebrink unterstreicht in ihrem Beitrag «Zur Relevanz von sozialer Ungleichheit im Kontext der Mediensozialisationsforschung» die Bedeutung unterschiedlicher sozialer Lagen fur das Verstandnis von Alltag und Lebenswelt von Heranwachsenden. Sie definiert soziale Milieus als «Manifestation des je spezifischen Zusammenhangs von sozialer Lage und Lebensentwurf der agierenden Personen» und skizziert zentrale Dimensionen eines mediensozialisationstheoretischen Konzepts als Grundlage fur eine integrative und interdisziplinare Forschungsperspektive. Der Beitrag stellt eine Panelstudie zur (Medien-)Sozialisation bei sozial benachteiligten Kindern in Osterreich vor und konzentriert sich dabei auf die theoretische und methodologische Anlage dieser Studie. Ziel der Studie war es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den je spezifischen Auspragungen der Lebensfuhrung von Familien zu identifizieren und Einflussfaktoren fur die Mediensozialisation von Kindern zu benennen. Manuela Pietras und Markus Ulrich beziehen sich in ihrem Beitrag «Medienkompetenz unter milieutheoretischer Betrachtung: Der Einfluss rezeptionsasthetischer Praferenzen auf die Angebotsselektion» auf den Milieuansatz von Gerhard Schulze und seine Uberlegungen zu «Erlebnisrationalitat» sowie auf das SINUS-Milieukonzept (SINUS Sociovision). Pietras & Ulrich interessiert vor allem die Frage, auf welche Weise Medien die jeweilige Erlebnisrationalitat bedienen. Hierzu stellt der Beitrag anhand einer empirischen Stichprobe Befunde aus einem Vergleich von zwei Online-Zeitungen (Bild.T-Online und FAZ.NET) hinsichtlich der Informations- und Unterhaltungsorientierung dieser Zeitungen vor und diskutiert diese Befunde auf dem Hintergrund von Leserdaten. Als ein Ergebnis wird festgehalten, dass Unterhaltungs- und Informationsorientierung nicht nur mit Bildung, sondern auch mit milieuspezifischen, medienasthetischen Praferenzen zusammenhangen, die in die Angebotsselektion mit einfliessen.