Die Gewalt, die angeblich oder tatsächlich von psychisch kranken Menschen ausgeht – und die Gewalt, die sie erleiden – ist ein immerwährendes Thema in der Psychiatrie und in der Öffentlichkeit [1]. Das Stereotyp der Gewalttätigkeit spielt eine wichtige Rolle bei der Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Krankheiten, insbesondere von Menschen mit Psychose. Dabei fehlen zuverlässige Daten über die Risiken, mit denen wir rechnen müssen. Die Einschätzungen reichen von der Behauptung, psychisch Kranke, auch Psychosekranke, seien nicht gewalttätiger als andere Menschen, bis zur Behauptung, 10% und mehr aller tödlichen Gewalttaten würden von psychisch Kranken begangen. Eine rezente Übersichtsarbeit von Maier und Kollegen [1] kommt zu dem Schluss, dass das Gewaltrisiko selbst innerhalb einer Diagnosegruppe erheblich zwischen verschiedenen Studien und Ländern variiert. Wir möchten den scheinbaren Widersprüchen unterschiedlicher Häufigkeitsangaben auf den Grund gehen, um danach auf bisher wenig beachtete problematische Implikationen solcher Risikoeinschätzungen hinzuweisen. Zunächst möchten wir grundsätzliche Probleme der Abschätzung des relativen Risikos für tödliche Gewalttaten deutlich machen. Dazu gehören ▶ die unsichere Abgrenzung zwischen Mord, Todschlag und Körperverletzung mit Todesfolge (wobei Letztere in der Regel nicht in die entsprechenden nationale Statistiken von Tötungshandlungen eingehen), ▶ Unterschiede in der Auswahl der Referenzstatistiken wie Polizeistatistiken, Anklageund Verurteilungsstatistiken, ▶ unterschiedliche nationale Häufigkeiten von Tötungshandlungen: z.B. Deutschland 0,8 pro 100000 pro Jahr gegenüber 4,2 in den Vereinigten Staaten (mit dem Ergebnis, dass dort bei vergleichbar hohen Tötungsraten durch Menschen mit psychischen Krankheiten die Odds Ratio für solche Taten deutlich niedriger ist), ▶ unterschiedliche Rechtssysteme, ▶ Unsicherheiten und nationale Unterschiede in der diagnostischen Zuordnung, ▶ die Problematik von subjektiven Faktoren bei der forensischen Begutachtung von Gewalttätern, die sich in Verurteilungsraten, vor allem aber in Verurteilungsgründen niederschlägt, ▶ Unterschiede in der Berechnung der Bezugspopulation beim Vergleich der Häufigkeit von Tötungsdelikten durch „Gesunde“ und „psychisch Kranke/ Psychosekranke“. So wird die Prävalenz von Psychosen zwischen 0,5 und 4% der Bevölkerung angegeben. Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig.
[1]
P. Mortensen,et al.
Post-illness-onset risk of offending across the full spectrum of psychiatric disorders
,
2015,
Psychological Medicine.
[2]
M. Grube,et al.
Intimpartnergewalt in einer Gruppe schwer psychisch erkrankter Frauen
,
2014,
Psychiatrische Praxis.
[3]
L. Appleby,et al.
Trends in rates of mental illness in homicide perpetrators
,
2011,
British Journal of Psychiatry.
[4]
L. Appleby,et al.
Rates of mental disorder in people convicted of homicide
,
2006,
British Journal of Psychiatry.
[5]
M. Berger,et al.
Zwischenmenschliche Gewalt im Kontext affektiver und psychotischer Störungen
,
2015,
Der Nervenarzt.