Ein Fall von sogenannter amyotrophischer Lateralsklerose1)

Von Professor IL. Senator. M. H. ! Die Berechtigung, Ihnen über einen einzelnen Fall einen Vortrag zu halten, finde ich darin, dass dieser Fall meiner Meinung nach eine fast prineipielle Bedeutung hat und geeignet ist, in einer Streitfrage, die seit langer Zeit zwischen L e y d e n einerseits und Charcot bezw. der Charcot'schen Schule andererseits schwebt, etwas zur Klärung beizutragen. Ich darf als bekannt voraussetzen, dass Charcot vor Jahren ein Krankheitsbild unter dem Namen der ,,amyotrophischen Lateralsklerose" von anderen, mit denen man die Krankheit bis dahin nach seiner Meinung unrechtmässig zusammengeworfen hat, namentlich aus der Gruppe der atrophischen Muskellähmungen abgesondert hat, das sich charakterisirt durch eine allmählich zur Lähmung sich steigernde Schwäche in den oberen und unteren Extremititten, zu welcher dann eine Atrophie von dem Charakter der progressiven spinalen Muskelatrophie, namentlich in den oberen Extremitäten, hinzutritt. Im Gegensatz aber zur Mehrzahl der letzteren bestehen Contracturen, Steifigkeit der Glieder und, wie man später nach Entdeckung der Sehnenreflexe erkannt hat, Erhöhung dieser letzteren. Dabei Freibleiben der Sensibilität und der Sinnesorgane, Freibleiben der Functionen von Blase und Mastdarm. Die Affection schreitet im Laufe der Zeit, d. h. von Jahren, auf die von den Bulbärnerven versorgten Muskeln fort und führt, wenn nicht eine intercurrente Krankheit den Patienten vorher hinweggerafft hat, infolge der Bulbärlähniung zum Tode durch Schluckpneumonie oder durch Lähmung des Respirationsapparats u. dergi. Als anatomisches Substrat dieser Krankheit hat man in vielen Fällen eine Atrophie der grauen Substanz der Vorderhörner, insbesondere der Ganglienzellen in ihnen, und eine Sklerose der Seitenstränge, hauptsächlich,, wenn auch nicht ausschliesslich der Pyramidenstränge gefunden, ferner ähnliche Veränderungen ill der Medulla oblongata. In einigen Fällen hat man noch weiter hinauf bis zur Hirnrinde und zwar, wie es scheint, nur im Verlauf der sogenannten cortieo-musculären Bahn Veränderungen gefunden, in anderen aber auch vermisst. Chareot betrachtete die Seitenstrangsklerose als das Primäre, dagegen die Affection der grauen Substanz als von jener bedingt, also als ,,deuteropathisch". Die wesentlichen Erscheinungen des Krankheitsbildes, die spastisch-paralytischen Erscheinungen und die Muskelatrophie, wurden durch den anatomischen Befund, die Seitenstrangsklerose und die Atrophie der Vorderhörner erklärt, und diese schöne Harmonie zwischen anatomischen Befund und klinischen Erscheinungen hat gewiss viel dazu beigetragen, dass Charcot's Lehre sehr bald Eingang und fast allgemeine Anerkennung fand, obgleich die Fälle nicht immer dem Schema entsprechend sich verhielten. Das einzige, worin Charcot's Lehre modificirt wurde, war, dass man die Vorderhornatrophie nicht als deuteropathisch, sondern auch als selbstständig betrachtete und je nach dem klinischen Verlauf bald diese, bald die Seitenstrangsklerose zuerst auftreten und überwiegen liess. In der Deutung der Symptome aber,