Balance der Schmerzen
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in den Jahren nach dem Kriege half uns Amerika mit Marshall-Plan und privaten Zuwendungen wieder auf die Beine; das machte uns die Amerikaner sympathisch. Darüber, wie zu helfen ist, hatten sie meist vorgefasste Meinungen. Dass etwa ein niederbayerischer Bauer anders geartet ist als ein Farmer in Idaho, ließ damals mein amerikanischer Gesprächspartner als Argument nicht gelten: „Bullshit, people are the same all over the world.“ Eben das bestritt ich. Nun allerdings, da der American Way of Life, die amerikanische Lebensart, weltweit angenommen wird, würde ich darüber nicht mehr so pauschal streiten. Die Völker mögen ungleich sein; wenn sie aber miteinander verkehren und leben wollen, geht das nur über einen Mindestsatz gemeinsamer Normen. Sie werden sich zum Schmerz der Traditionalisten mit der Zeit immer gleicher. Deutschland hat sich im 19. Jahrhundert stark verändert. Vorher wurde es fleckenweise von unabhängigen absoluten Monarchen regiert. Dann kam Napoleon, unterwarf und re or ganisierte das Land. Seine Herrschaft hatte den Deutschen ihre Gemeinsamkeiten bewusst gemacht. Die Unterschiede aber waren noch da; etwa in Preußen zwischen dem agrarischen Ostelbien und der anbrechenden Industriegesellschaft in den rheinischen Provinzen. Die feudale Struktur Deutschlands wurde restauriert, doch das Miteinander musste neu organisiert werden. Un ter anderem wurde ein Erneuerungsund Angleichungsprozess im Rechts we sen unternommen. Die Hegel’sche Philosophenschule war für eine ganzheitliche Sicht des Menschen und für ein aus dem natürlichen Rechtsgefühl abgeleitetes, neues Recht. Die Politik aber hielt sich unbeirrt an die altdeutschen Weisheiten und an den im Rheinbund praktizierten Code Napoleon. Am Ende des Jahrhunderts standen die positivistischen Gesetzbücher fest. Die Rechtspraxis war vereinheitlicht; die Deutschen waren sich gleicher geworden; das Naturrecht war noch leer ausgegangen. Erst ein halbes Jahrhundert danach war es als Ergebnis globaler Anstrengungen wieder da: in Form der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Zwanzig Jahre später war diese Erklärung die Grundlage für den Datenschutz. Nun haben wir eine Europäische Union, die ähnlich wie seinerzeit Deutschland zu ihren gesellschaftlichen Normen finden muss. Die EU-Kommission hat vor 6 Jah ren für die öffentliche Sicherheit und die Sicherheit der Person die „Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten“ erlassen. Diese muss von den Staaten in nationales Recht umgesetzt werden. Deutschland zögert damit, denn nach Spruch des Bundesverfassungsgerichts verstößt Vorratsdatenspeicherung gegen den Datenschutz. Die Umsetzungsfrist ist verstrichen. Die EU-Kommission verklagt Deutschland beim Europäischen Gerichtshof wegen Verletzung der EU-Verträge. Sie will aber auch die Richtlinie überarbeiten, um Datenschutzempfindlichkeiten nach Möglichkeit zu berücksichtigen. Die Zeiten sind bewegt. Datenschutz, Menschenrechte, Naturrecht stiften derzeit Unruhe in Europa. Die Menschen wollen Schutz vor Missbrauch ihrer Daten, aber auch Schutz ihres Menschenrechts auf „Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. Die Polizei muss diesen Schutz gewährleisten. Sie will dazu Daten auf Vorrat speichern. Soll sie das dürfen? Darüber gibt es Streit. Eine gelungene technische Lösung könnte den Streit überflüssig machen. Wenn sie nicht gelingt, müssen die Betroffenen bereit sein, für die Gewährleistung des einen Rechtsgutes eine begrenzte Verletzung des anderen zu akzeptieren. Man könnte wohl, liebe Leserinnen und Leser, die Verluste gegeneinander abwägen und unter Partnern auf einem demokratischen Wege die Entscheidung finden. Diese kann aber nur in dem Sinne gerecht sein, dass jedem Partner sein Stückchen Verlust gleich weh tut. Balance der Schmerzen. So lange es aber weh tut, bleiben die Partner Gegner. Man kann hoffen, dass sie bezüglich eines ausgewogenen Bedarfs an Menschenrechten zusammenfinden, dass die Unterschiede sich verlieren, dass die Schmerzen nachlassen, und dass sich damit die Gegner als Europäer ein Stückchen gleicher werden.