Ethischer Fortschritt

Menschenrechte stehen hoch im Kurs. Sie gelten als unteilbar. Das soll sagen: Menschenrechte sind ein Ganzes und müssen insgesamt erfüllt sein. Gemeint ist also ein e thi sches Muss, nicht ein logisches. „Unteilbar“ bezeichnet keine Tatsache, sondern stellt eine Forderung. Der Mensch steht voll in der Schuld, wenn er nur ein einziges Menschenrecht verletzt, mag er auch alle anderen einhalten. Logisch, hingegen, sind Menschenrechte sehr wohl auseinander zu halten, ist ihr Ganzes teilbar. Zum Beispiel hält sich die chinesische Staatsführung nicht an das ethische Muss. Man kann damit feststellen: Sie teilt die Menschrechte in eine einhaltbare und eine vernachlässigbare Untermenge. Menschenrechte kommen jedermann zu und gelten stets; zum Beispiel das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit; desgleichen das Recht auf Gewissensund Religionsfreiheit, oder das auf rechtliches Gehör. Die Persönlichkeitsrechte unter den Menschenrechten jedoch sind anders. Sie gelten nicht dem Individuum als solchem, sondern beziehen sich auf seine Person im sozialen Span nungs feld, auf den in die Gesellschaft eingebundenen Menschen. Seine Persönlichkeit definiert sich aus seinem Verhältnis zur Gesellschaft. Er stellt an die Gesellschaft seine Freiheitsansprüche; sie hat an ihn entgegen gerichtete Forderungen nach Solidarität. Das Gemeinwesen will einen gegen den Bürger gesi cher ten Staat; der Bürger will mehr Freiheit vor dem Staat. Wie viel Ordnung oder Freiheit, bleibt offen, jedenfalls soll es mehr sein; je nach der ethischer Einstellung beliebig viel mehr. Die Differenzierung und Ausgestaltung der Menschenrechte ist heute wesentlich deutlicher und rigoroser als in den 70er-Jah ren. In den 70er-Jahren war man sich z.B. des Verständnisses der meisten Zeitgenossen sicher, wenn man im Erziehungswesen einen Fall sexuellen Missbrauchs vertuschte, weil „so etwas nicht an die Öffentlichkeit gehört“. Heute urteilt man entschieden rigoroser. Das allgemeine moralische Empfinden hat sich geändert und hat einen ethischen Fortschritt auf striktere Einhaltung der Menschenrechte hin gebracht. Der Fortschritt kann auch entgegen gerichtete moralische Werte erfassen z.B. die Solidarität mit dem Gemeinwesen. In den 70er-Jahren konnte man sich damit offen brüsten, dass man sich die Finanzierung des Urlaubs von der Krankenkasse erschlichen hatte. Das wäre heute zumindest unklug. Ähnlich missfällt es etwa dem Bürger, wenn Gutverdiener ihr Geld nach Liechtenstein schmuggeln und verstecken, um Steuern zu hinter zie hen. Seiner Meinung nach verdienen es die dazu ge speicherten Daten nicht, geschützt zu werden, auch wenn der Datenschutz als Menschenrecht gilt und damit selbst dem übelsten Steuerhinterzieher zustünde. Dass Finanzministerien Diebesgut kaufen, wird ebenfalls hingenommen. Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein, hat sich seit den 70er-Jahren im Sinne des ethischen Fortschritts für die Datenschutzrechte des Bürgers überzeugend eingesetzt. Er ist unverdächtig. Kürzlich erklärte er aber, seine Landesregierung rechtfertigend, den Ankauf und eine Verwendung personenbezogener Daten für die Strafverfolgung von Steuerhinterziehern für unbedenklich und richtig. Für die Steuergerechtigkeit könne man das hinnehmen. Ein Menschenrecht im Kompromiss? Das, liebe Leserinnen und Leser, geht nicht. Ethischen Ansprüchen, können Kompromisse nichts anhaben. Das achte Gebot bleibt bestehen, auch wenn gelogen wird. Gleichwohl bringt die Praxis nur Kompromisse und nie Endgültiges zustande. Das liegt beim Datenschutz nicht allein – wie oft angeführt wird – am technisch/wirtschaftlichen Fortschritt. Der ethische Fortschritt, etwa der von 1970 auf 2010, wirkt entschieden mit. Und er ist nicht weniger unvorhersagbar und nicht weniger irritierend als sein Antagonist und Partner.